Anno 2007 begann die Neue Westfälische einen Prozessbericht mit folgenden Sätzen: "Ausbilder schießen übers Ziel hinaus. Im Münsteraner Strafprozess gegen Bundeswehrsoldaten gibt es besondere Umstände... Befehl ist Befehl. Nach dieser Regel funktioniert jede Armee."
Jeder Satz steht im Präsens, also im Tempus der
Gegenwart. Der erste Satz meint ein Ereignis, das drei Jahre zurückliegt.
Der zweite Satz meint ein Ereignis, das einen Tag zurückliegt. Der dritte und
vierte Satz meint einen Zustand, der immer noch anhält.
Aus gutem Grund hält die deutsche Grammatik für
unterschiedliche Zeitebenen wie die, um die es in dem Bericht geht, fünf
unterschiedliche Tempora vor: Futur, Präsens, Präteritum, Perfekt und
Plusquamperfekt. Aus schlechtem Grund verzichten die meisten Zeitungen seit Jahren weitgehend auf die
Verwendung von vier dieser fünf Tempora. Sie legen ihren lesern in einem Fall wie dem oben zitierten die Annahme nahe, dass Bundeswehr-Ausbilder
weiterhin übers Ziel hinausschießen, genau wie der Befehl weiterhin die
Grundlage jeder Armee ist.
Das Omnipräsens in den Überschriften bewirkt, dass ich Zeitungen nicht mehr glauben kann, dass sie über Tatsachen
berichten, die gestern wirklich passiert sind. Das mit den Ausbildern zum Beispiel stand groß in der Zeitung, war aber am Vortag nicht passiert. Sobald ein Artikel einen Augenzeugen zitiert, der
erzählt, was ihm gestern zugestoßen ist, erscheint plötzlich das Perfekt. Denn
das ist das Tempus, in dem normale Menschen über ihre gestrigen Erlebnisse
berichten. Wenn ein Mensch eine Geschichte im Präsens erzählt, ist das in der
Regel eine Filmstory, also Fiktion. Wollen die Zeitungen wirklich, dass ihre Leser die Artikel für Krimis halten?
Es scheint so. Denn jeder einzelne Mord steht dadurch mindestens dreimal groß und fett im Präsens: Das erste Mal am Tag nach der Tat.
Das zweite Mal am Tag, nachdem der Prozess begann. Das dritte Mal am Tag nach
dem Urteil. Auf diese Weise können die Zeitungen ihre Leichenquote verdreifachen, um halbwegs mit dem Tatort aufzuschließen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich schalte ihn in Kürze frei, wenn er zum Thema des Artikels passt.
Mit freundlichen Grüßen
Jens Jürgen Korff