Mittwoch, 3. Juni 2020

Kritischer Satzbau: das ewige Präsens der Zeitungen

"Andreas V. findet Opfer im Internet", behauptete die Neue Westfälische (Bielefeld) im Mai 2019. Zu diesem Zeitpunkt saß Andreas V., der Täter von Lügde, schon ein halbes Jahr lang im Knast. Hatte er auch dort noch Internet-Zugang zu Kindern? Solche Fragen kann die verwirrende Pressemarotte auslösen, selbst über Ereignisse, die schon Jahre her sind, im Präsens zu berichten.

Anno 2007 begann die Neue Westfälische einen Prozessbericht mit folgenden Sätzen: "Ausbilder schießen übers Ziel hinaus. Im Münsteraner Strafprozess gegen Bundeswehrsoldaten gibt es besondere Umstände... Befehl ist Befehl. Nach dieser Regel funktioniert jede Armee."
Jeder Satz steht im Präsens, also im Tempus der Gegenwart. Der erste Satz meint ein Ereignis, das drei Jahre zurückliegt. Der zweite Satz meint ein Ereignis, das einen Tag zurückliegt. Der dritte und vierte Satz meint einen Zustand, der immer noch anhält.

Aus gutem Grund hält die deutsche Grammatik für unterschiedliche Zeitebenen wie die, um die es in dem Bericht geht, fünf unterschiedliche Tempora vor: Futur, Präsens, Präteritum, Perfekt und Plusquamperfekt. Aus schlechtem Grund verzichten die meisten Zeitungen seit Jahren weitgehend auf die Verwendung von vier dieser fünf Tempora. Sie legen ihren lesern in einem Fall wie dem oben zitierten die Annahme nahe, dass Bundeswehr-Ausbilder weiterhin übers Ziel hinausschießen, genau wie der Befehl weiterhin die Grundlage jeder Armee ist. 

Das Omnipräsens in den Überschriften bewirkt, dass ich Zeitungen nicht mehr glauben kann, dass sie über Tatsachen berichten, die gestern wirklich passiert sind. Das mit den Ausbildern zum Beispiel stand groß in der Zeitung, war aber am Vortag nicht passiert. Sobald ein Artikel einen Augenzeugen zitiert, der erzählt, was ihm gestern zugestoßen ist, erscheint plötzlich das Perfekt. Denn das ist das Tempus, in dem normale Menschen über ihre gestrigen Erlebnisse berichten. Wenn ein Mensch eine Geschichte im Präsens erzählt, ist das in der Regel eine Filmstory, also Fiktion. Wollen die Zeitungen wirklich, dass ihre Leser die Artikel für Krimis halten?

Es scheint so. Denn jeder einzelne Mord steht dadurch mindestens dreimal groß und fett im Präsens: Das erste Mal am Tag nach der Tat. Das zweite Mal am Tag, nachdem der Prozess begann. Das dritte Mal am Tag nach dem Urteil. Auf diese Weise können die Zeitungen ihre Leichenquote verdreifachen, um halbwegs mit dem Tatort aufzuschließen.

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Jens Jürgen Korff