Montag, 5. Mai 2014

Journalisten kennen keine Vergangenheit und Zukunft

Deutsch könnte so einfach sein...
Wenn man z. B. über Dinge, die vergangen sind, im Tempus der Vergangenheit (Perfekt oder Präteritum) schriebe; über Dinge, die gegenwärtig sind, im Tempus der Gegenwart (Präsens); über Dinge, die in der Zukunft liegen, im Tempus der Zukunft (Futur). Zu diesem Zweck, möchte ich meinen, sind die Tempora, die Zeitformen der Grammatik, einstmals erfunden worden. Und wenn wir uns unterhalten, halten wir uns auch fast immer daran. Nur wenn Journalisten zu schreiben anfangen, sieht die Welt plötzlich anders aus. 

Zum Beispiel so:

Unauffällig steht der junge Mann da, groß und schlaksig, die dunklen Haare hinten zusammengebunden - ein Kind, das viel zu früh erwachsen werden musste. Im schlimmsten Migrantenviertel Dänemarks als Sohn palästinensischer Flüchtlinge aufgewachsen, wird er regelmäßig von seinem Vater verprügelt, gequält und schikaniert.*

Wie - immer noch? Er ist doch schon 18!
Ach so, nein, die Berichterstatterin ist unbemerkt vom Präsens der unmittelbaren Beobachtung ("Unauffällig steht der junge Mann da...", nämlich gestern bei einer Lesung in Leipzig) über ein offenbar unvermeidbares Präteritum hinweg ("erwachsen werden musste") ins Präsens der ferneren, biographischen Vergangenheit gewechselt. Dadurch entstehen, wie oben, falsche Zwischenbotschaften. In der Umgangssprache nutzt man diese Zeitform meist, um fiktive Geschichten zu erzählen, z. B. eine Filmhandlung. Die Journalisten rücken ihre Biographien damit in die Nähe der Fiktion. Ob sie das wirklich wollen?

Oder so:

Fünf Menschen harren in Kühlkammer aus 

Schlagzeile der Neuen Westfälischen am 12.1.2015, S. 3, einen Tag nach Rettung der bedrohten Supermarktbesucher in Paris. Der Artikel darüber ist überschrieben: „Die Welt steht Paris zur Seite“. Da stimmt das Präsens.

Nepalesin verliert Angehörige bei Erdbeben / 19-Jährige macht soziales Jahr in Hüllhorst und lebt tagelang in Ungewissheit 

Überschrift der NW am 16.5.2015. Wieso stolpert das Semantikgefühl der Journalisten nicht über die Formulierung "lebt tagelang"? "Lebt seit Tagen" sagt man, wenn der Zustand noch anhält, und "lebte tagelang", wenn er vorbei ist. "Lebt tagelang" macht keinen Sinn. Besonders in Kombination mit "macht soziales Jahr", wo das Präsens wiederum korrekt ist.

Niederlande bringen erste Opfer von Flug MH17 nach Hause

Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung vom 22.7.2014. In Wirklichkeit hatte der niederländische Premier Rutte angekündigt, dass die ersten Opfer am nächsten Tag in den Niederlanden eintreffen sollten. Also auch die Zukunft steht im Präsens.


*Nada Weigelt: Ein junger Dichter klagt an. dpa-Bericht in der Neuen Westfälischen, 20.3.2014

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Jens Jürgen Korff